Ich habe den folgenden Text von Franco Bifo Berardi übersetzt, nicht weil ich mit allen seinen Ansichten übereinstimme, aber weil er meine wesentliche Haltung zum Überfall auf die Ukraine ausdrückt: Es ist kein Krieg, in dem ich Partei beziehen kann. Jede Invasion und jeder Krieg muss entschieden verurteilt werden, solange es sich nicht um legitime Selbstverteidigung handelt. Auch ich finde es selbstverständlich, die Menschen in der Ukraine zu unterstützen. Aber dieser Konflikt wäre vermeidbar gewesen, und diejenigen, die jetzt empört die Fahne der Freiheit schwenken, haben zielstrebig darauf hin gearbeitet, dass er eskaliert. Der Hurrapatriotismos der NATO-Mitglieder ist geschichtslos und verlogen. Und auch das Gros der deutschen Linken, in den Jahren der Pandemie auf gehorsame Unterordnung und Staatsraison trainiert, kennt (wieder mal) keine Parteien, nur noch (diesmal) Europäer*innen, und applaudiert begeistert den Kriegskrediten und der allgemeinen Mobilmachung. Nie wieder Krieg? War da mal was? Ach wo. Gemeinsam mit der NATO in den Abgrund!
Krieg und senile Demenz
Franco Bifo Berardi
Veröffentlicht am 27.2.2022
Auslöschen
Anéantir, das lezte Buch von Houellebecq hat siebenhundert Seite, aber die Hälfte davon wäre ausreichend gewesen. Es ist nicht sein bestes Buch, aber es ist der verzweifelteste, hoffnungsloseste und cholerischste Ausdruck des Verfalls der dominierenden Gattung.
Tief drin in Frankreich. Eine Familie versammelt sich um den achzigjährigen Vater, der ein Hirnsturz erlitten hat. Ein nicht enden wollendes Koma des alten Patriarchen, der für den Geheimdienst gearbeitet hatte. Der Sohn Paul, der auch für den Geheimdienst arbeitet und ausserdem für das Finanzministerium, stellt fest, dass er an einem unheilbaren Krebs leidet. Der andere Sohn, Aurelien, Paul’s Bruder, begeht Selbstmord, unfähig, sich einem Leben zu stellen, das nur aus Niederlagen bestand.
Übrig bleibt die Tochter Cecile, eine fundamentalistische Katholikin, die mit einem faschistischen Notar verheiratet ist, der seine Anstellung verloren hat, aber in den Kreisen der Rechten um Le Pen eine neue gefunden hat.
Die unheilbare Krankheit ist das Thema des mittelmässigen Romans: Die Agonie der westlichen Zivilisation. Es ist kein angenehmes Spektakel, aber das weisse Hirn ergibt sich nicht in das Unausweichliche. Die Reaktion der sterbenden alten Weissen ist tragisch.
Das Umfeld, in dem sich diese Agonie entwickelt, ist das Frankreich von heute, dessen Kultur von vierzig Jahren liberaler Agression zerstört ist. Ein Geisterland, in dem der politische Kampf innerhalb des mephistoletischen Quadrats von agressivem Nationalismus, weissem Rassismus, islamischem Groll und ökonomischen Fundamentalismus stattfindet.
Aber das Szenario ist auch eine postglobale Welt, bedroht durch die senile Demenz der dominanten Kultur im franken Verfall: weiss, christlich, imperialistisch.
Agonie, Krieg, Selbstmord
Es ist die Ostgrenze Europas: Zwei alte Weisse spielen ein Spiel, von dem sich niemand zurückziehen kann.
Der alte weisse Amerikaner ist von der beschämendsten und tragischsten Niederlage zurückgekehrt. Schlimmer als Saigon hat sich Kabul als ein Ausdruck des geistigen Chaos der regierenden Rasse in der Vorstellung festgesetzt.
Der alte weisse Russe weiss, dass seine Macht auf einem nationalistischen Versprechen basiert: Es geht darum, die vergewaltigte Ehre der Heiligen Mutter Russland zu rächen.
Wer aufgibt, verliert alles.
Dass Putin ein Nazi ist wissen wir, seitdem der Tschetschnienkrieg mit einem Genozid geendet hat. Aber es war ein Nazi, der vom Präsidenten der Vereinigten Staaten freundlich empfangen wurde, währemd er ihm in die Augen blickte und sagte, er verstehe, dass er ehrlich sei. Auch von den weissen Briten, fett von den Rubeln, die Putin’s Freunde nach der Demontage der Sowjetunion gestohlen hatten, wurde er freundlich empfangen. Das russische Oberhaupt und der Angloamerikaner waren herzliche Freunde so lange es darum ging, die soziale Zivilisation zu zerstören, das Erbe der proletarischen und kommunistischen Bewegung. Aber die Freundschaft zwischen Mördern hält nicht an. Denn wofür wäre die NATO denn gut gewesen, wenn tatsächlich Frieden eingekehrt wäre? Und wo wären die gigantischen Gewinne der Unternehmen geblieben, die Massenvernichtungswaffen herstellen?
Die Erweiterung der NATO diente der Erneuerung einer Feindschaft, auf die der Kapitalismus nicht verzichten kann.
Es gibt keine rationelle Erklärung für den Krieg in der Ukraine, weil er die Zuspitzung einer psychotischen Krise des weissen Gehirns ist. Wo ist die Rationalität der NATO-Erweiterung, die die polnischen, baltischen und ukrainischen Nazis gegen den russischen Faschismus bewaffnet? Im Gegenzug erhält Biden das Ergebnis, das die US-amerikanischen Strategen am meisten gefürchtet haben: Er hat Russland und China in eine Vereinigung gedrängt, die Nixon vor fünzig Jahren erfolgreich zerstört hatte. Deswegen brauchen wir, um den bevorstehenden Krieg zu Verstehen, keine Geopolitik, sondern Psychopathologie. Vielleicht brauchen wir eine Geopolitik der Psychose.
Tatsächlich geht es um den politischen, ökonomischen, demographischen und vielleicht psychischen Verfall der weissen Zivilisation, die die Aussicht auf die Erschöpfung nicht akzeptieren kann und stattdessen die totale Zerstörung vorzieht, den Selbstmord, die allmähliche Auslöschung der weissen Dominanz.
Westen – Zukunkt – Verfall
Der Krieg in der Ukraine eröffnet einen hysterischen Rüstungswettlauf, eine Verstärkung der Grenzen, einen wachsenden Zustand von Gewalt: Demonstration von Kräften, die in Wirklichkeit ein Ausdruck des senilen Chaos sind, in das der Westen verfallen ist.
Am 23 Februar 2022, als die russischen Truppen bereits in den Donbass einmarschiert waren, meinte Trump, der Expräsident und Kandidat für die nächste Präsidentschaft, Putin sei ein Genie der Befriedung. Er schlägt vor, die USA sollten ein ähnliches Heer an die Grenze zu Mexico schicken.
Wir versuchen zu verstehen, was der obszöne Trump bedeutet. Welchen wahren Kern ernthält sein Delirium? Es geht um das Konzept des Westens an sich. Aber wer ist der Westen?
Wenn wir eine geographische Definition des Wortes „Westen“ benutzen, gehört Russland nicht dazu. Aber wenn wir bei diesem Wort an den antropologischen und geschichtlichen Kern denken, dann ist Russland westlicher als jedweglicher sonstiger Westen.
Westen ist das Land der Dekadenz. Aber es ist auch das Land der Besessenheit für die Zukunft. Und beide Dinge sind eins, denn für die Organismen, die dem zweiten thermodynamischen Gesetz unterworfen sind so wie die individuellen und sozialen Körper, bedeutet Zukunft Zerfall.
Der westliche Westen und der Westen des gigantischen russischen Vaterlandes sind also vereint im Futurismus und dem Verfall, also dem Delirium der Allmacht und der verzweifelten Machtlosigkeit.
Trump muss man zugute halten, dass er die Sache beim Namen nennt: Unsere Feinde sind nicht die Russen, sondern die Völker der südlichen Halbkugel, die wir seit Jahrhunderten ausgebeutet haben und die jetzt mit uns den Reichtum des Planten teilen und in unsere Länder migrieren wollen. Der Feind ist China, das wir gedemütigt haben, Afrika, das wir ausgeplündert haben. Nicht das weisse Russland, das zum Grossen Westen gehört.
Trump’s Logik baut auf der weissen Überlegenheit auf, deren extreme Vorhut Russland ist.
Biden’s Logik ist die Verteidigung der freien Welt, die selbstverständlich seine wäre, aus einem Völkermord geboren, aus der Deportation von Millonen Sklaven, einer systematisch rassistischen Welt. Biden bricht den Grossen Westen auseinander zugunsten eines Westens ohne Russland, dazu bestimmt, sich selbst zu zerreissen und den ganzen Planeten in seinen Selbstmord mit hinein zu reissen.
Wir versuchen, den Westen als den Bereich einer dominanten Rasse zu definieren, die von der Zukunft besessen ist. Ein expansiver Impuls setzt sich durch: Wirtschaftliches Wachstum, Akkumulation, Kapitalismus. Es ist genau diese Besessenheit für die Zukunft, die die Maschine der Domination befeuert: Die Umwandlung der konkreten Gegenwart (also Lust und Gehenlassen) in abstrakten künftigen Wert.
Wenn wir die Fundamente der marxistischen Analyse des Wertes ein wenig umformulieren, könnten wir sagen, dass der Tauschwert genau diese Akkumulation der Gegenwart, also des Konkreten, in abstrakte Formen ist (wie das Geld), die morgen umgetauscht werden können.
Diese Fixierung auf die Zukunft ist keinerlei natürliche menschliche kognitive Modalität. Die Mehrheit der menschlichen Kulturen bauen auf einer zyklischen Wahrnehmung der Zeit auf oder auf der nicht überteffbaren Ausdehnung der Gegenwart. Der Futurismus ist der Übergang zum vollen Selbstbewusstsein der expandierenden Kulturen, selbst in der Ethik. Aber die Futurist*innen sind unterschiedlich und bisweilen gegensätzlich. Die Besessenheit für die Zukunft hat unterschiedliche Auswirkungen im theologisch-utopischen Bereich bei der russischen Kultur, und im technisch-ökonomischen Bereich, der der euroamerikanischen Kultur eigen ist.
Der Kosmismus von Federov, der Futurismus von Mayakovski enhalten einen skatologischen Hauch, der dem technokratischen Fanatismus von Marinetti und seinen amerikanischen Jüngern wie Elon Musk gänzlich fehlt.
Vielleicht fällt es dehalb Russland zu, mit der Geschichte des Westens aufzuräumen. Das ist es nämlich, was sich gerade abspielt.
Der Faschismus ist überall
Nachdem wir die Schwelle der Pandemie überschritten haben ist das neue Panorama der Krieg, der den Faschismus dem Faschismus gegenüberstellt. Günther Anders hat schon in seinen Schriften der Sechzigerjahre (Die Antiquiertheit des Menschen) vorausgesagt, dass die nihilistische Last des Nazismus sich mit der Niederlage nicht erschöpft hat und als Ergebnis der technischen Macht, die ein Gefühl der Erniedrigung des menschlichen Willens und seine Reduktion zur Machtlosigkeit erzeugt, auf die Bühne der Welt zurückkehren würde.
Jetzt können wir beobachten, wie der Faschismus als psychopolitische Form des dementen Körpers der weissen Rasse wiederaufersteht, die auf ihren erbarmungslosen Abstieg durchaus lebhaft reagiert. Das virale Chaos hat die Voraussetzungen für die Schaffung einer globalen biopolitischen Infrastruktur geschaffen, aber es hat auch das Schreckensbild der Unregierbarkeit gezeichnet, mit dem chaotischen Wuchern der Materie, die die Ordnung verlässt, sich auflöst und stirbt.
Das westliche Gehirn hat den Tod beseitigt, weil er mit der Zukunftsbesessenheit nicht vereinbar ist. Es beseitigt das Altern, weil es mit der Expansion nicht vereinbar ist. Aber jetzt zeigt sich die demographische, kulturelle und selbst ökonomische Überalterung der dominanten Kulturen des Nordens wie ein Gespenst, über das die weisse Kultur nicht einmal nachdenken kann, und die zu akzeptieren ihr schon ganz unmöglich ist.
Wir haben hier also das weisse Gehirn, sowohl das von Biden wie das von Putin, das in eine heftige Krise seniler Demenz gerät. Der wildeste von allen, Donald Trump, erzählt eine Wahrheit, die niemand hören will: Putin ist unser bester Freund. Selbstverständlich ist er ein weisser Rassist, aber wir sind das genauso. Biden verkörpert die machtlose Wut, die die Alten verspüren, wenn sie des Verfalls ihrer körperlichen Kräfte, der geistigen Energie und der mentalen Effizienz gewahr werden. Jetzt, wo die Erschöpfung in ein fortgeschrittenes Stadium eintritt, ist die Auslöschung die einzige tröstende Aussicht.
Kann sich die Menschheit vor der vernichtenden Gewalt des Todeskampfes des dementen Gehirns der westlichen, russischen, europäischen und amerikanischen Zivilisation retten? Egal wie die Invasion der Ukraine sich weiter entwickelt, ob sie zu einer stabilen Besatzung wird (unwahrscheinlich) oder mit dem Rückzug der russischen Truppen endet, nachdem sie den militärischen Apparat, den die Euro-Amerikaner Kiev zur Verfügung gestellt haben (wahrscheinlich), kann der Konflikt nicht mit der Niederlage des einen oder anderen der alten Patriarchen gelöst werden. Keiner der beiden kann sich zurückziehen, ohne gewonnen zu haben. Deshalb scheint diese Invasion eine tendenziell globale Phase des Krieges einzuläuten, die tendenziell auch nuklear werden kann.
Die Frage, die derzeit unbeantwortet bleibt, bezieht sich auf die nicht-westliche Welt, die seit ein paar Jahrhunderten die Arroganz, die Gewalt und die Ausbeutung Europas, Russlands und schliesslich Amerikas erleiden musste. Im selbstmörderischen Krieg, den der Westen gegen den anderen Westen losgetreten hat, sind die ersten Opfer diejenigen, die den Wahn der beiden Westen erleiden mussten, die, die keinen Krieg wollen, aber die Auswirkungen erleiden müssen.
Der letzte Krieg gegen die Menscheit hat begonnen.
Das einzige, was wir tun können, ist ihn zu ignorieren, ihn zu verlassen, gemeinsam die Angst in Denken verwandeln und uns mit dem Unvermeidlichen abfinden, denn nur so kann das Unvorhersehbare in der Widrigkeit stattfinden: der Friede, die Lust, das Leben.